Ursula Ströbele

(UdK Berlin)

NACH DER NATUR. PROZESSE DES LEBENS IN DER SKULPTUR

Seit jeher ist der bei Pygmalion zum Ausdruck kommende Topos der Verlebendigung ein zentraler Reibungspunkt für die Geschichte der Bildhauerei. Wie lässt sich in starren, widerstandsfähigen Materialien – Bronze, Holz und Stein – Leben und Bewegung darstellen? Mit welchen Mitteln können die Betrachteraugen getäuscht und sinnlich verführt werden?
Nach der Natur. Prozesse des Lebens in der Skulptur rückt das komplexe Verhältnis von Natur und Kunst in den Fokus. Dabei stehen nicht die naturgetreue Darstellung und illusionistische Nachahmung von Leben im Sinne der klassischen Mimesis im Vordergrund. Hingegen wird in der sogenannten Non-Human Living Sculpture Leben nicht mehr abgebildet und imitiert, sondern selbst in seiner Prozesshaftigkeit in den White Cube transportiert.
Ausgehend vom klassischen, auf Statuarik, Unbeweglichkeit und Zeitenthobenheit basierenden Skulpturenverständnis richtet sich das Interesse des skizzierten Vortrags besonders auf eine Erweiterung des Skulpturenbegriffs im Hinblick auf lebende, zeitbasierte „Objekte“. Pflanzen und diverse Organismen, wie bioluminiszente Algen und Bakterienkulturen, Kleinstlebewesen, wie Insekten und Spinnen, aber auch (domestizierte) Tiere der alltäglichen Umgebung dienen dabei als plastischer Stoff in den Händen des Leben spendenden bzw. verändernden Künstlers.
Während Pygmalion die Natur durch seine Bildhauerei nachahmt, erfolgt bei der living sculpture scheinbar die umgekehrte Bewegungsrichtung: Natur mutiert zur Kunst. Gerade heute in Zeiten begrenzter Ressourcen und dem Massensterben unserer Artenvielfalt, der Überformung von Natur in kultivierte, industrialisierte Landschaft gilt es, den Blick auf das im Alltag häufig übersehene Leben mit seinen unterschiedlichsten Ausprägungen wieder zu schärfen.


URSULA STRÖBELE wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Kunstwissenschaft und Ästhetik der Universität der Künste Berlin, Autorin und Kuratorin. Sie promovierte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zu den Bildhaueraufnahmestücken der Königlichen Akademie in Paris (1700-1730) und veröffentlichte ihre Dissertation 2012 im Imhof Verlag. 2013 erschien „Mise-en-Scène. Skulptur und Narration. Untersuchungen zu Anish Kapoor“ bei Silke Schreiber; 2015 „24h. Skulptur. Notes on Time Sculptures“ im Distanz Verlag. Derzeitiger Forschungsschwerpunkt ist die Erweiterung des Skulpturenbegriffs im Hinblick auf zeitbasierte, immaterielle, performative Phänomene – Skulptur als Handlung, als Aufführung sowie die Verbindung von Tanz und Skulptur. Seit 2015 leitet sie zusammen mit Prof. Martina Dobbe das von der DFG geförderte Wissenschaftliche Netzwerk zur Theorie der Skulptur.